«Ich verstehe das Unbehagen junger Menschen»

Isabelle Amschwand, Präsidentin der Sammelstiftung Trianon, erwartet, dass der umfassende gesellschaftliche Wandel zu einschneidenden Änderungen in der Vorsorge führt. Sie rechnet mit dem Ende der Vollversicherung.

Wie wär's, wenn wir, um die Zukunft besser vorzubereiten und die Bedürfnisse der Jugend zu berücksichtigen, auch Themen der gesellschaftlichen Entwicklung ansprechen würden?

Isabelle Amschwand, ausgebildete Juristin, ist Präsidentin der Sammelstiftung Trianon (FCT), der zweitgrössten Sammeleinrichtung der Westschweiz.

Die Trianon AG besteht seit 1997 und spielt in der Schweiz eine führende Rolle im Bereich der Personal- und Pensionskassenverwaltung. 1998 gründete sie die Sammelstiftung Trianon (FCT). Die Trianon AG verwaltet heute mehr als 20'000 Löhne im Monat und 90 Vorsorgeeinrichtungen, zu denen die FCT gehört. Ende 2015 verkauften die Aktionäre der Trianon AG ihre Firma an die Mobiliar-Gruppe. Diese Transaktion hat keine Auswirkung auf die FCT, die – wie alle von Trianon verwalteten Vorsorgestiftungen – ausschliesslich ihren Versicherten gehört.

Mit einem verwalteten Vermögen von knapp 4,5 Milliarden Franken, 110 Vorsorgekassen und 25'000 Versicherten Anfang 2020 hat sich die Grösse der FCT in zehn Jahren verdoppelt. Ein Geschäftsmodell mit offener Architektur ermöglicht es ihr, die Lösungen auf die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Unternehmens zuzuschneiden und im Interesse der Versicherten die besten Partner auszuwählen. Dieses Modell kann mit einem «Gebäude in Stockwerkeigentum» verglichen werden. Wie beim Stockwerkeigentum stellt die FCT die Mauern, das Dach, die Zentralheizung und die Hausverwaltung zur Verfügung. Die einzelnen Stockwerkeigentümer beziehungsweise Vorsorgekassen in der FCT können dann über die Anzahl der Zimmer, die Farbe der Küche oder die Leistung der Heizung entscheiden. Der Stiftungsrat der FCT steckt die Governance und den reglementarischen Rahmen ab, in deren die Vorsorgekommission ihre Entscheidungen treffen dürfen. Die allgemeinen Verwaltungskosten – Administration, Entwicklung, Kommunikation, Bankgebühren, Rückversicherungsprämien – und die Aufwendungen für die Aufsicht der Stiftung im weitesten Sinne werden den Skaleneffekt geniessen.

Wie wird sich der Markt für berufliche Vorsorge entwickeln?

Die Konsolidierung wird voraussichtlich weitergehen und sich wie in den Niederlanden beschleunigen. Der Konsolidierungstrend hängt hauptsächlich mit dem Druck des Gesetzgebers, der wachsenden Komplexität der zweiten Säule und der Notwendigkeit zusammen, das bestmögliche Preis-Leistungs-Verhältnis anzubieten. Die vom System verursachten Kosten (beispielsweise Compliance, PK-Experte, Revisionsstelle, Verwaltung usw.) nehmen nicht exponentiell ab, wenn eine kritische Schwelle erreicht worden ist. Die kritische Grösse liegt in der Regel bei 300 bis 500 Versicherten. Aber die Wahl des Vorsorgesystems hängt davon ab, wie der Arbeitgeber organisiert ist und ob er vollständige Unabhängigkeit anstrebt. Die Anzahl der Pensionskassen wird sich wohl künftig halbieren. Zudem wird sich voraussichtlich ein weiterer Trend verstärken, der zum Ende der Vollversicherung führen wird.

Warum glauben Sie nicht an die Vollversicherung?

Die Kosten sind in der Vollversicherung normalerweise deutlich höher als in einem autonomen oder halbautonomen Vorsorgesystem. Versicherungsmakler preisen die Vollversicherung oft als Schutz vor einem Sanierungsrisiko an. Wenn man jedoch Kosten und Leistungen für den Versicherten und das Unternehmen miteinander vergleicht, merkt man schnell, dass dieses System in erster Linie sehr teuer ist. Ein kurzer Blick auf den Deckungsgrad (grosses Vermögen autonomer und halbautonomer Kassen), die den Versicherten gutgeschriebenen Zinsen und die Direktkosten zeigt, dass eigentlich alles gegen die Vollversicherung spricht.

Verstehen Sie, dass die derzeitige Entwicklung in der zweiten Säule den Jungen grosse Sorge bereitet?

Ja, ich verstehe die jungen Menschen. Das Unbehagen beruht zum einen auf fehlender Kommunikation und Bildung im Rahmen der Schulpflicht und zum anderen auf der eher kurzfristig orientierten Vision des Gesetzgebers. Wir sprechen nicht über die Themen, die junge Menschen beschäftigen: Digitalisierung, Zukunft des Arbeitsmarkts, Entwicklung der Wissenschaft usw.

Warum gehen die Menschen nicht auf die Strasse?

Die Bevölkerung versteht, dass sie besser und länger lebt, ohne dass das Arbeitsleben gleichzeitig verlängert wird. Sie versteht, dass sich das System weiterentwickeln muss, erwartet jedoch Lösungsvorschläge. Gemäss unserer Verfassung soll die erste mit der zweiten Säule zusammen ein Renteneinkommen von rund 60 Prozent des letzten Einkommens erreichen. Diese Ersatzquote wurde beschlossen, als die Lebenserwartung ungeachtet des Geschlechts bei Rentenbeginn 16 Jahre betrug. Heute sind es 20 Jahre, aber die Versicherten gehen weiterhin im gleichen Alter in Rente. Wir leben besser und länger. Der Kuchen hat sich nicht geändert, aber wir müssen ihn in mehr Stücke schneiden.
Die Stiftungen passen ihre Angebote und Leistungen entsprechend an, ohne auf einen «Marschbefehl» aus Bern zu warten. Die FCT bietet kein BVG-Minimum mehr an, weil dies keine andere Sanierungsmassnahme erlaubt als die Beitragserhöhung bei vorübergehender Unterdeckung. Wie bereits erwähnt, setzen Makler dieses Argument ein, um Kleinunternehmen anzuhalten, einer Vollversicherung beizutreten. Es ist jedoch belegt, dass eine eventuelle vorübergehende Beitragserhöhung in einem halbautonomen oder autonomen System wie bei der FCT merklich weniger kostet als die normalen Beiträge der Vollversicherungen.

Werden wir künftig versuchen, länger zu arbeiten, um den Kuchen zu vergrössern?

Ja, wahrscheinlich. Ausserdem haben die meisten Erwerbstätigen bereits «angepasste» Kuchenstücke, etwa eine umhüllende Vorsorge. Der Studie 2019 von Swisscanto zufolge liegt der Umwandlungssatz bei durchschnittlich 5,7 Prozent.
In der Debatte über die Vorsorgereform basieren die Überlegungen leider hauptsächlich auf technischen Parametern, wie dem Umwandlungssatz, dem Koordinationsbetrag und den Altersgutschriften. Man versucht, die aktuellen, dringenden Probleme zu lösen, ohne die künftigen Herausforderungen zu diskutieren. Die Welt wird in den nächsten Jahrzehnten einen einschneidenden Wandel erfahren, aber wir schliessen davor die Augen. Heute sprechen wir über Lebenserwartung und beschränken uns auf die versicherungsmathematische Vision, ohne von den Fortschritten der Genetiker, der personalisierten Medizin für alle oder der Robotik zu sprechen.

Was würden diese neuen Technologien an der Debatte um die Vorsorge ändern?

Die technologischen Entwicklungen werden die ins Auge gefassten Grenzen verschieben. Die Lebenserwartung steigt und die Beschwerlichkeit der Arbeit sinkt (Maschinen erleichtern beispielsweise alle Aspekte des menschlichen Lebens, sie gehören keiner Gewerkschaft an, unterliegen nicht dem SECO, zahlen keine Steuern und keine Sozialbeiträge). Der Mensch bleibt wichtig. Aber sein Wertbeitrag wird sich ändern. Uns erwartet eine «Gig Economy», das heisst ein Arbeitsmarkt, der auf aufgabenbezogener Entlöhnung basiert. Wir kommen in ein Zeitalter, in dem Selbstständigerwerbende (Freelancer), die für eine bestimmte Leistung und eine begrenzte Zeit bezahlt werden, an Bedeutung gewinnen. In den USA ist bereits mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen selbstständig beschäftigt. Denken Sie in der Schweiz beispielsweise nur an den Taxidienst Uber… Leider sprechen wir nicht über diese Änderungen, die sich zwar nicht genau quantifizieren lassen, die aber Auswirkungen auf das System haben werden.

Wie heisst die Lösung? Individualisierung?

Selbstständigerwerbende sind derzeit nicht gezwungen, sich einer Vorsorgeeinrichtung anzuschliessen. Wenn sie es tun wollen, müssen sie es mit ihren Mitarbeitenden tun, bei einer Kasse ihres Berufsverbands oder der Auffangeinrichtung (begrenzte Lösungen). Das Projekt «Altersvorsorge 2020» enthielt den Vorschlag, dass Selbstständige einer Vorsorgeeinrichtung ihrer Wahl beitreten. Ich würde noch einen Schritt weitergehen und letztlich eine berufliche Vorsorgepflicht für alle Erwerbstätigen einführen.
Dieser Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung wird derzeit verdrängt. Ansonsten begrüsse ich die vorgeschlagene Senkung des Umwandlungssatzes, die Erhöhung oder Nivellierung der Altersgutschriften und die Flexibilisierung des Koordinationsbetrags. Aber wir müssen auch die Vorsorge der Zukunft vorbereiten, um den jungen Menschen und ihren Anliegen Rechnung zu tragen.

Wie werden sich die grossen Stiftungen entwickeln?

Auch ihre Rolle wird sich gewiss ändern. Heute ist sie rein finanzieller Natur, da sie die Ersatzeinkommen bei Invalidität, Tod und Rente auszahlen. Warum fördern wir nicht den Austausch zwischen den Generationen in der «Community der Vorsorgeeinrichtungen»? Warum helfen die auszubildenden Kinder der Versicherten nicht den Rentnern der Einrichtung bei ihren verschiedenen Tätigkeiten, um ihnen Sozialhilfe und Pflegeheime zu ersparen? Warum teilen die Rentner der Einrichtung im Gegenzug nicht ihre Wohnung mit diesen jungen Menschen, damit sie beispielsweise auch fern ihres Heimatorts eine Ausbildung absolvieren können?

Ist das Unbehagen der Bevölkerung auf eine mangelnde Kommunikation Ihrerseits zurückzuführen?

Die Welt der beruflichen Vorsorge muss ihre Kommunikationsstrategie verbessern, damit die Versicherten deren Leistungen besser erkennen. Ich sehe manchmal Vorsorgeausausweise, die einen Projektionszins von 3 Prozent oder mehr für das Altersguthaben verwenden. Das ist Augenwischerei. Wir müssen ehrlich sein. Transparenz, Ehrlichkeit, Unabhängigkeit sowie aktive Teilnahme des Unternehmens und der Versicherten sind wesentliche Erfolgsfaktoren des Systems.

Ein technischer Zinssatz von 3 Prozent, ist das ehrlich?

Nein, aber ein technischer Zinssatz von 1 Prozent ist es auch nicht. Manche Evaluationen sehen einen technischen Zinssatz von 1 oder sogar nur 0 Prozent vor. Es handelt sich um einen kurzfristigen Ansatz, während die Vorsorge auf einer langfristigen Vision und einem Kapitalertragssystem beruht. Auch in einem Niedrigzinsumfeld erzielt eine diversifizierte strategische Allokation über 20 Jahre eine positive Rendite. Die Banken und Versicherungen, die einen technischen Zinssatz von rund 1 Prozent ansetzen, glauben nicht mehr an das, was sie tun. Ferner zeugt ihre Sicht der Wirtschaftsentwicklung von einem beängstigenden Pessimismus. Ich bin mit dieser Einstellung nicht einverstanden. Die FCT wird Anfang 2020 einen maximalen technischen Zinssatz von 2 Prozent haben.

Braucht das System mehr Professionalität?

Das Milizprinzip muss auf jeden Fall beibehalten werden. Es gewährleistet den gesunden Menschenverstand, der so wichtig ist. Wir dürfen es nicht abschaffen. Ich bin zwar eine Fachperson im Bereich der beruflichen Vorsorge, aber ich schätze es sehr, mit meinen Kolleginnen und Kollegen, die keine Spezialisten sind, im Stiftungsrat zu sitzen. Sie stellen die richtigen Fragen im richtigen Augenblick und sind immer direkt und offen. Ich bin überzeugt, dass die berufliche Vorsorge so gut funktioniert, weil sie in den Händen der Bevölkerung liegt, die versteht, was auf dem Spiel steht. Der Wissensaustausch sollte auf eine breitere Basis gestellt werden.

 

Artikel von Emmanuel Garessus
Veröffentlicht am 28.10.2019 in der Zeitung "Le Temps"
Bildnachweis: © Dom Smaz
Originalartikel auf der Internetseite Le Temps