FCT - Prof. Suren Erkman

Generalversammlung der FCT: Wie wird ein Risiko zur Chance? (2. Teil)

An der diesjährigen Generalversammlung der FCT-Gruppe vom 17. September 2020 in Lausanne stand der Begriff des Risikos im Fokus, und zwar aus der Perspektive der Innovation.
Nach den beiden emotionalen Präsentationen zweier Ausnahmesportlerinnen (siehe letzten Newsletter) brachte Professor Suren Erkman von der Fakultät für Geowissenschaften und Umwelt der Universität Lausanne wissenschaftlichere Aspekte ins Spiel und betrachtete das Risiko als Treiber für dynamische Entwicklungen in der Industrie.

In den vergangenen 30‘000 Jahren haben die Menschen hunderte von oft sehr komplexen sozioökonomischen Systemen erfunden, wie dies insbesondere die chinesische, indische oder ägyptische Kultur zeigt. Unter all diesen Systemen gibt es aber eins, das ganz anders ist: das industrielle System, in dem wir seit rund zwei Jahrhunderten leben. Dieses System entstand mit der Entwicklung der Dampfmaschine, dank der man viel mehr Kohle fördern und folglich zahlreiche weitere Dampfmaschinen herstellen konnte und so weiter. Mit Hilfe dieser Kettenreaktion konnte zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein wesentliches Merkmal des industriellen Systems entstehen, nämlich ein Überfluss an Energie.

Die Tatsache, dass so viel überflüssige Energie zur Verfügung stand, führte nach diesem grundlegenden Umbruch zu einem enormen Wirtschaftswachstum. Laut Prof. Erkman ist diese Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen, denn das industrielle System hat sich noch nie zuvor so rasch ausgedehnt wie heute. Und in dieser Phase der massiven Industrialisierung unseres Planeten werden wir mit neuen Risiken gesellschaftlicher Art konfrontiert, die uns schon lange bekannt sind, nämlich dem Strommangel und der Pandemie, wobei diese beiden Risiken eng zusammenhängen.

Da die treibende Kraft unseres Industriesystems der Energieüberfluss ist, verkörpert jede Störung bei der Stromversorgung eine Katastrophe in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Dazu kommt, dass eine der sichtbarsten Folgen der gegenwärtigen Pandemie die Beschleunigung bestimmter Trends ist, insbesondere der Digitalisierung, die ebenfalls auf Strom angewiesen ist. Dies hat zur Folge, dass unsere Abhängigkeit vom elektrischen System mit jedem Tag steigt. Angesichts der exponentiellen oder gar überexponentiellen Wachstumskurven des Stromverbrauchs bewegen wir uns in Richtung einer mathematischen Singularität, d. h. wir gehen in Richtung Unendlichkeit.

Müssen wir uns also vor einer informationellen Katastrophe fürchten?
Nein, antwortet Prof. Erkman, denn das industrielle System sei ständig mit exponentiellen oder überexponentiellen Verläufen konfrontiert. In der realen Welt könne das Exponentielle aber nicht ewig währen. Jedes dynamische Phänomen durchläuft zunächst eine Latenzphase, danach ein mehr oder weniger rasches Wachstum, gefolgt entweder von einem Abflachen oder Einknicken der Kurve oder vom Übergang in ein anderes System. Und so kann die Menschheit dank der Innovation den Verlauf der Kurve verändern und einen neuen Zyklus in Angriff nehmen.

Ein weiteres wichtiges Merkmal des industriellen Systems ist die technologische Beschleunigung. Die Eroberung des Weltraums ist ein gutes Beispiel dafür, mit immer mehr Geräten, die um die Erde kreisen. Dies führt zu immer mehr Weltraumschrott und erhöht damit das Risiko einer Kollision, was wiederum neuen Schrott erzeugt und so weiter. Das Problem mag auf den ersten Blick unlösbar erscheinen, doch einmal mehr bringt die Veränderung der Kurve die Lösung: Es entsteht derzeit eine neue Branche, die Raumfahrtmissionen neu ausrichtet, um die Schrotterzeugung zu verringern oder den bestehenden Schrott zu eliminieren. 

Abschliessend erwähnt Professor Erkman das Problem der CO2-Emissionen als weiteres Beispiel dafür, wie Innovation ein Risiko in eine Chance verwandeln kann. Seit dem Beginn der Diskussionen rund um die Klimaerwärmung am Ende des 20. Jahrhunderts sind die CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen trotz allen internationalen Abkommen um 60 % gestiegen. Das bedeutet, dass diese Anstrengungen zwar unabdingbar sind, dass sie aber nicht ausreichen, und dass die Kurve unbedingt neu ausgerichtet werden muss. Könnten wir denn nicht unsere Wahrnehmung von CO2 verändern? Wenn man CO2 in konzentrierter Form oder direkt in der Luft bindet, kann man es im Boden einlagern. Und wenn es gelingt, wenigstens einen Teil des CO2 in wertvolle Produkte zu verwandeln, dann wird es sogar zu einer Einnahmequelle. Es gibt bereits heute zahlreiche Beispiele für die Verwendung von Produkten, die aus CO2 entstanden sind: Dünger, Plastik-Polymere, Baumaterial, Treibstoffe und sogar Nahrungsmittelprodukte, um nur einige zu nennen.

Mit seinem spannenden Vortrag vermittelt Professor Suren Erkman eine durchaus optimistische Botschaft: Das exponentiell wachsende industrielle System, in dem wir leben, erzeugt zwar Risiken, die wir aber dank der Innovation in Chancen verwandeln können, falls wir ihnen rational begegnen und neue Kompetenzen entwickeln.